Best Agers – Marketing
In fünf Minuten fünfzig Jahre älter
Wie ein Anzug mehr Lebensjahre simuliert
Wie fühlt es sich als junger Mensch an, alt zu sein? Dieser Frage ist das Meyer-Hentschel Institut aus Saarbrücken nachgegangen und hat einen Alterssimulationsanzug mit dem Namen Age Explorer® entwickelt. Wer in diesen Overall schlüpft, weiß innerhalb von fünf Minuten wie es sich anfühlt, wenn die Gelenke nicht mehr so richtig funktionieren, das Hörvermögen eingeschränkt und die Sicht getrübt ist.
„Ich kann die Packung auf dem oberen Regal nicht erreichen“, beklagt sich Jens Herbort, Vorsitzender der Mündener Gilde, der gerade den Age-Explorer® des Saarbrückener Meyer-Hentschel Instituts testet. Der Simulationsanzug macht den 45-Jährigen so unbeweglich wie einen Greis und vermittelt ihm hautnah das Gefühl über siebzig Jahre alt zu sein. Er wollte wissen, ob der Handel auf die Bedürfnisse älterer Menschen eingestellt ist: Kleine Preisschilder konnte er durch das Helmvisier nicht mehr lesen. Und immer wieder musste er seine Mitmenschen auffordern etwas lauter zu sprechen. Auch das Bücken fiel ihm schwer.
„Das war ein aufschlussreiches Experiment“, sagte Jens Herbort nach dem Probelauf. Die geringere Hörfähigkeit machte ihm am meisten zu schaffen. Er könne sich gut vorstellen, dass Hintergrundmusik, wie sie in manchen Geschäften läuft, Älteren Probleme bereitet.
Schieben, bücken, suchen, Schlange stehen – das Einkaufen im Supermarkt kann mächtig anstrengend sein. Marktleiter und Vorstandschefs können jetzt durch einen innovativen Anzug am eigenen Leib erleben, was Tausende von älteren Konsumenten beim Gang durch Deutschlands Supermärkte empfinden.
Der Simulationsanzug mit dem schillernden Namen Age Explorer®, ein sogenannter „Alterserforscher“, macht es möglich: Insgesamt 14 Kilogramm schwer, ausgestattet mit
Bleisäckchen in den Taschen; Helm, Kopfhörer und Stoffhandschuhen.
Der Age Explorer® vermittelt das körperliche Befinden im Alltag von älteren Menschen. Der Overall wird am Probanden mit Bandagen und Gewichten an Knien und Ellenbogen versehen, die die Bewegungsfreiheit einschränken und so den Eindruck verringerter Muskelkraft vermitteln. Harte Noppen an den
Innenseiten von Handschuhen sorgen für steife Finger. Auf die Ohren bekommt die Testperson einen Kopfhörer; dieser ist mit einem besonderen Dämmstoff bestückt, der die hohen Frequenzen schluckt und so alle Geräusche dämpft. Ein gelber Schirm vor den Augen schränkt das Sichtfeld ein und simuliert die Augenlinse eines betagten Menschen. So eingeschränkt fühlen sich viele Siebzigjährige in der Realität.
Das Meyer-Hentschel Institut aus Saarbrücken entwickelte 1994 in Zusammenarbeit mit Augenärzten, Orthopäden und Gerontologen (Alterswissenschaftlern) den Prototyp des Age Explorers®. Dieser Spezialanzug mit Helm lässt Menschen innerhalb von Minuten um Jahrzehnte altern und simuliert die durchschnittliche Veränderung im Alter. Die Erfahrung mit dem Age Explorer® ermöglicht nicht nur Beeinträchtigungen Älterer nach zu empfinden, sondern darüber hinaus deren Auswirkung auf die Psyche zu erleben. Markenartikler aller Branchen und der Handel sollen so auf die Bedürfnisse älterer Verbraucher sensibilisiert werden und sich in deren Situation hinein versetzen können.
„Unternehmen haben oft keine realistische Vorstellung, wie sich die Wahrnehmung ihrer Kunden mit zunehmendem Alter verändert“, meint Gundolf Meyer-Hentschel, Leiter des gleichnamigen Instituts aus Saarbrücken. Für eine genaue Imitation ist das Altern allerdings ein viel zu komplexer Prozess.
Der Age Explorer® hat nicht das Ziel, eine exakte Simulation des Alterns zu bieten. Zum einen gibt es große individuelle Unterschiede; zum anderen erlaubt der Age Explorer® eine Vielzahl von möglichen Einschränkungen des Alters zu erfahren. Nicht jeder wird von allen diesen Veränderungen gleich betroffen. Ein dritter Aspekt: Der Simulationsanzug lässt einen in Minuten altern; die Realität ist sehr viel langsamer und geht mit Anpassungs- und Gewöhnungsprozessen einher. „Wir können aber die Veränderungen, die mit dem Alter in Zusammenhang stehen, in einem gewissen Grad für jüngere Menschen erfahrbar machen“, erklärt Meyer-Hentschel weiter.
Seit nunmehr 15 Jahren wandeln Handelsmanager frohen Mutes durch die Märkte: Gerüstet im Age Explorer® und gewappnet mit Einkaufszettel, sind sie am Ende der Tour erstaunt und erschöpft. Die Einkaufswagen erscheinen plötzlich ungewöhnlich schwer, die Preisschilder am Regal und auf den Artikeln verschwommen und kaum lesbar, die Ware weit weg und schwer unterscheidbar, die Regale zu tief und zu hoch. Selbst der glänzende Marmorboden wirkt im Augenschein rutschig und bedrohlich.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) e. V. führte eine Verbraucherbefragung über gutes und bequemes Einkaufen im Supermarkt durch, die die gewonnenen Erkenntnisse der Manager untermauert. Viele ältere Konsumenten wünschten sich mehr Sitzgelegenheiten sowie eine Kundentoilette. Weiterhin wurde moniert, dass einige Waren zu tief im Regal stehen. Darüber hinaus fehle es an einer guten Beschilderung.
Ob solche Aha-Erlebnisse zu neuen Produktentwicklungen oder Veränderungen führen, ist von Unternehmen zu Unternehmen ganz unterschiedlich. „Große Aktionen sind meist gar nicht notwendig – geschweige denn zu erwarten“, sagt Gundolf Meyer-Hentschel. Es gehe schließlich nicht darum, bestehende Ladenkonzepte über den Haufen zu werfen. Die Ansatzpunkte sind wie Mosaiksteinchen: Große Preisschilder, hilfsbereite Marktleiter, eine klare, übersichtliche Regalbestückung, Ruhebänke und spezielle Warenangebote für die ältere Kundschaft. Auf den ersten Blick oft unscheinbare Kleinigkeiten, in der Wirkung aber groß. Die Bilanz nach Hunderten von Rundgängen und Workshops bewertet das Meyer-Hentschel Institut im Großen und Ganzen als gut. Gerade der Lebensmittelhandel sei sehr aufgeschlossen für Touren und Anregungen. Das gelte sowohl für mittelständische und kleine Händler als auch für große Handelskonzerne.
Doch nicht nur der Handel bemüht sich, den Bedürfnissen älterer Menschen gerecht zu werden. Auf der internen Kundenliste des Age Explorers® tauchen eine Reihe renommierter Markenartikler und Dienstleister auf. Zunehmend wird der Simulationsanzug auch in sozialen, medizinischen und öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Altenpflegeheimen oder dem Personennahverkehr eingesetzt. Ebenso nutzen vermehrt
Architekten, Produktentwickler, Ingenieure und das Handwerk die Erkenntnisse aus dem Rundgang im Age Explorer®. Alle Interessenten haben eins gemeinsam: Sie möchten nachvollziehen können, welche Wünsche, Bedürfnisse und Probleme die Älteren haben, um dies bei der Planung, Entwicklung und Umsetzung neuer Produkte und Dienstleistungen mit einfließen zu lassen; oder um das Vorhandene altersgerecht zu verbessern.
Den unbestrittenen Erkenntnissen aus den Rundgängen im
Altersanzug mit eingeschränktem Seh- und Hörvermögen folgen in der Regel Zeit raubende Kalkulationen in den Firmenzentralen. Manchmal vergehen so ein bis zwei Jahre. Manch Unternehmer wägt allerdings erst gar nicht ab und legt die Erfahrungen gleich zu den Akten – aus Image-Bedenken. Senioren seien wohl wichtig als Zielgruppe, die Beobachtungen aus den praxisnahen Workshops interessant. Man selbst sei aber auf junge, dynamische Zielgruppen ausgerichtet, heißt es dann lapidar von Marketingseite.
Das Beispiel der Marke „Zewa“ zeigt, dass es auch anders geht: Die gewonnenen Einsichten durch den Rundgang im Age Explorer® setzten die Produktentwickler der Firma SCA Hygiene Products aus Mannheim, in einem neuen Verpackungskonzept für das Toilettenpapier „Zewa Soft“ um. Dem Verbraucher wird durch eine innovative Komfortöffnung das Aufmachen der Packung erleichtert. Daraufhin wurde das Produkt von der Fachpresse mit dem Verbraucherpreis 2008 ausgezeichnet.
Welche Taten folgen, sei letztendlich immer abhängig von der Führungsspitze, zeigt die Erfahrung von Gundolf Meyer-Hentschel. Strategisch handelnde Unternehmer zeigten sich aufgeschlossener als solche, die sich in erster Linie mit dem täglichen Geschäft und mit Umsatzrückgängen befassen. Das sei nicht nur im Handel, sondern in der gesamten Wirtschaft so.
Diese Unternehmen bauten emsig kleine Mosaiksteinchen zusammen, gestalten bewährte Produkte, Geräte, Verpackungen, Versicherungspolicen und auch Märkte seniorengerecht
und -freundlich um. Sie fänden dabei regen Anklang, sowohl bei neuen Kunden als auch durchweg bei allen Generationen – egal ob Alt oder Jung.
Copyright© Gudrun Krüger
Ich freue mich über Ihren Wortwechsel
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